Text: Bert Noglik

 

Sie sind dort zu Hause, wo Klang zum Ereignis wird, die zwei Saxophonistinnen und acht Saxophonisten aus Karlsruhe, die fast die ganze Familie des von ihnen auserkorenen Instrumentes als Ausdrucksmittel nutzen: vom Sopranino- über Sopran-, Alt-, Tenor- und Bariton- bis zum Baßsaxophon. 

Die Potenzierung des Saxophonklangs durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Instrumente, bereits vom "Erfinder" Adolphe Sax intendiert und von Ensembles im Bereich der klassischen bzw. Neuen Musik wie auch im weiten Spielfeld des Jazz realisiert, hat noch längst keinen Endpunkt erreicht. Im Spiel mit den Variablen Klang und Raum gelingen den Karlsruher Saxophonisten unerhörte Steigerungen und ungeahnte Differenzierungen. Dabei entsteht der Eindruck eines universellen Schallspektrums, vergisst man mitunter die konkrete Art der Tonerzeugung, fühlt man sich an andere Instrumente, an das akustische Ausmaß von Natureignissen und Industrieprozessen erinnert.Tönend bewegte Formen, ganz im Sinne einer überlieferten Definition von Musik, aber auch Geräusche und Zufallsoperationen, in denen ein an John Cage geschärftes Klangbewußtsein ästhetische Qualitäten erspäht. 

Raum-Musik für Saxophone transzendiert die Sprache eines ohnehin außerordentlich "eloquenten" und "beredten" Insrumentes. Zugleich macht sie die Multidimensionalität des Raumes bewußt: seine architektonische, physikalische, klangliche Beschaffenheit, seine Atmosphäre, sein Stimmungspotential, seine emotionalen, sinnlichen, theatralischen Konnotationen. So geht es den Karlsruher Saxophonisten um das akustische Ausmessen und klangliche Umdeuten des Raumes im Spielprozess. Nicht um den abstrakten Raum, sondern um die Besonderheiten des einzelnen Raumes im Spielprozess. Wo andere wegen der Abweichung von der Norm des idealtypischen Aufführungsortes verunsichert werden, entsteht für dieses Ensemble eine Spannung, die Kreativität herausfordert. Der Raum befördert das jeweilige Konzept, inspiriert die Improvisation, wirkt nicht nur als unverrückbarer Parameter, sondern kommt durch die musikalische Aktion selbst als Partner ins Spiel. Kein Wunder also, daß vergleichsweise exotische Räumlichkeiten für die Karlsruher Saxophonisten zum bevorzugten Ambiente avancierten: Wasserspeicher und Fabrikhallen, Hallenbad und Hauptbahnhöfe, Steinbrüche und Markthallen, Gasometer und Tiefgaragen, natürlich auch die traditionell unkonventionellsten, variationsreichsten Räume für Klangerzeugung: Kirchen und Dome. 

Im Spiel der zehn Saxophone fließen unterschiedliche Stilelemente und Ausdrucksweisen zusammen. Obwohl sich einzelne Stimmen zuweilen abheben und solistisch artikulieren, liegt der Schwerpunkt der musikalischen Arbeit auf dem gemeinschaftlichen Klang-Raum-Ereignis. Was diese Konsequenz anbelangt, übertrifft das Ensemble gar eine Reihe kunstvoll agierender Saxophongruppen im Post-Free-Jazz-Umfeld. Eigen-und Gruppendynamik des Spielprozesses von zehn Saxophonisten lassen gleichermaßen an musikalische wie an soziale, psychologische und biophysische Bewegungsabläufe denken. 

Zur Deutung müssten neben Musikologie auch Kommunikationstheorie und Chaosforschung herangezogen werden. Doch "erklären" läßt sich diese mal strukturalistisch anmutende, dann beinahe Kultisches beschwörende Klangproduktion ohnehin nicht. Und wer sie mit und-oder nacherleben will, braucht vor allem eins: eine den Musikerinnen und Musikern entprechende Offenheit für das noch nicht oder so noch nicht Gehörte. 

Untrennbar mit dem Klang-und Raumerlebnis verbunden erweist sich das Gefühl für den Ablauf der Zeit, für Standort und Bewegung. Durch Positionswechsel im Raum macht das Ensemble bzw. machen einzelne Spieler die Musikerzeugung multiperspektivisch erfahrbar, wird die konventionelle Konzertsituation relativert. Eine Steigerung erlebt dieses Konzept durch Eigenbewegung der Zuhörenden: Klang nicht als fixiertes Phänomen im Verhältnis zwischen Spender und Empfänger, sondern als etwas Veränderliches. 

Doch das Erstaunlichste bei alledem bleibt das, was so schwer in Worte, Bilder oder Vergleiche zu fassen ist: das Wachsen der Töne aus der Stille, das Auf-und Abschwellen von Klangströmen, das Auftauchen des Einzelnen aus der Gruppe, das Zusammenschmelzen und Überlagern von Sounds zu eigenwilligen Collagen, das rhythmische Pulsieren von Saxophonchören, das surrealistische Verfremden und das konstruktivistische Verschweißen, das zarte Klagen und das wilde Aufbäumen und all das, wofür es keine Begriffe gibt: wenn im Prozeß des Spontanen etwas ganz und gar Sinnfälliges und zugleich Magisches entsteht. Kein Experiment, sondern im Raum glühende Musik.

 

Bert Noglik